Ein Hellseher verdirbt den Weihnachtsfrieden
Nachkriegsweihnacht mit kargen Gabentischen und die Furcht vor einem Weltkrieg
Einen bitteren Beigeschmack hat es schon, als die Menschen in Vilsbiburg im Dezember 1950 das erste Fenster des Adventskalenders öffnen. Zwar erwartet zu dieser Zeit noch niemand ein Stück süßer Schokolade darin; man freut sich schon über ein buntes Bildchen mit einem weihnachtlichen Motiv. Aber selbst dieses vermag keine besondere Vorfreunde zu erzeugen, wenn zuvor der Bote den Vilsbiburger Anzeiger gebracht hat. Darin warnt die Hauptüberschrift auf der ersten Seite mit unzweideutig vor einer "Beispiellosen Gefahr für den Weltfrieden" und der amerikanische Präsident Harry S. Truman hält es gar für angemessen, den Einsatz der Atombombe in Korea "lebhaft zu erwägen".
Was war im Fernen Osten geschehen? Im Juni 1950 haben nordkoreanische Truppen die Demarkationslinie überschritten und innerhalb von drei Monaten annähernd die gesamte Halbinsel unter ihre Gewalt gebracht. Es ist dies einer der vielen Stellvertreterkriege zwischen den Weltmächten und der endgültige Bruch der Allianz gegen Hitler. Das Ende des Zweiten Weltkrieges liegt erst fünf Jahre zurück, manche Familien sind noch getrennt und viele Versehrte werden noch lange an ihren Verletzungen leiden. Und jetzt die ganz reale Angst vor einem Dritten Weltbrand.
Betrachtet man die Empfindungen der damaligen Zeit – beispielsweise mit der Einschätzung, es sei der von dem Hellseher Alois Irlmaier aus Freilassing prophezeite Dritte Weltkrieg eben nicht ausgebrochen und die wirtschaftliche Situation wurde von Jahr zu Jahr besser – aus der heutigen Perspektive, begeht man einen historischen Irrtum. Denn niemand kann damals ahnen, dass drei Jahre und mehr als vier Millionen Tote später in Korea ein Waffenstillstand geschlossen wird. Und dass sich sechs Jahrzehnte später unterhalb der Ebene eines Tablet-Computers keine Weihnachtsfreunde einstellen wird, wo man doch im Jahr 1950 schon über für eine warme Mütze dankbar ist. Die Wolle dafür wird wegen fehlender Bezugsmarken vielleicht aus einem nicht so dringend benötigten Kissenbezug gewonnen. Schon etwas besser ist dran, wer die bisherige Puppe mit neuen Kleidern oder das alte Holzpferd mit einem frischen Anstrich unter dem nadelnden Christbaum findet. Besonders Glück empfindet, wer in den Zeiten der Lebensmittelrationierung von der Caritas oder der Inneren Mission eines der begehrten CARE-Pakete bekam. Diese Hilfslieferungen aus Übersee enthalten neben Margarine, Fruchtkonserven, Käse und Milchpulver auch gelegentlich den reinen Luxus: Kakao und Schokolade.
Heimkehrer und Heimatvertriebene
Auch in den Lokalnachrichten der Heimatzeitung klingen immer wieder die Folgen des II. Weltkrieges nach. So wird am 19. Dezember 1949 rechtzeitig zum Fest mit dem Bauhilfsarbeiter Georg Moser wieder ein Heimkehrer aus seiner mehr als vierjährigen Kriegsgefangenschaft in Vilsbiburg begrüßt. Auch in der Sitzung des Kreistages Vilsbiburg geht es hauptsächlich um die Linderung der ärgsten Not. Heftig wird über die Brennholzbeihilfe und die Gewährung der Weihnachtsbeihilfe debattiert. Die Sätze von fünf Mark für Alleinstehende und 10 bzw. 15 Mark für Familien hält insbesondere der SPD für zu gering. Deren Fraktionsvorsitzender Dr. Ernst Puchner bezeichnet es als Fehler, an der Weihnachtsbeihilfe zu sparen. Allein die Stadt Vilsbiburg hat mehr als 1.200 Flüchtlinge und Heimatvertriebene unterzubringen; das entspricht etwa einem Drittel der angestammten Einwohnerschaft. Die Integration gelingt überraschend gut. Und doch wird bei Todesfällen – und es starben überdurchschnittlich viele Emigranten in den ersten Nachkriegsjahren – nicht der Hinweis vergessen, dass es sich bei den Dahingeschiedenen um Flüchtlinge handelt. Im Gegenzug vergeht keine der gut besuchten Weihnachtsfeiern der Vertriebenenverbände ohne die offen ausgesprochene Erwartung, bald wieder in der alten Heimat unter dem Christbaum zu sitzen.
Altes Brauchtum
In den ersten Nachkriegsjahren schimmert zwischen den Zeilen der Heimatzeitung heute fast vergessenes Brauchtum durch. Aus Bodenkirchen wird berichtet, dass jeweils an den Donnerstagen vermummte Gestalten mit den traditionellen Klopferliedern von Haus zu Haus ziehen. Für ihren Vortrag erhalten sie Äpfel, Nüsse, Weihnachtsgebäck und Kletzen. Der Reporter freut sich einerseits, dass im Binatal die alte Sitte noch hochgehalten wird, mahnt jedoch: ?Auf keinen Fall aber sollte dies zu einer nächtlichen Umherstreunerei und zu sonstigem Unfug Anlass geben.? In Gerzen rufen im Jahr 1950 täglich die Glocken zu den morgendlichen Rorateämtern. In der festlich erleuchteten Pfarrkirche erklingen die altvertrauten Advents- und Marienlieder und natürlich auch das Vokalstück ?Tauet, Himmel, den Gerechten? aus der Zeit um 1800.
Wir machen einen Sprung in das Jahr 1959: Seit einiger Zeit trägt sich der Wirtschaftaufschwung selber. Beobachten lässt sich dies in Zeitungen und Versandhaus-Katalogen. Aber noch immer treffen sich auch in dieser Vorweihnachtszeit die heimatvertriebenen Bauern zu ihrer eigenen Versammlung und der BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) bereitet sich auf die Kommunalwahl des Jahres 1960 vor. Bei den Weihnachtsvorbereitungen geht es nun nicht mehr nur darum, die Familie satt zu bekommen. Es darf schon wieder mal etwas Besonders sein, sonst hätte es die Metzgerei Jagenlauf nicht für richtig gehalten, bei der Erweiterung des Ladens in der Kirchstraße auch eine Feinkostabteilung anzugliedern. Die Weihnachtsausgabe vom 24. Dezember kündigt das umfangreiche Programm der Filmtheater in Vilsbiburg, Frontenhausen und Velden sowie der Lichtspiele Gerzen und Vilsbiburg an. Doch auch in dieser Zeitungs-Ausgabe zeichnet sich schon der allmähliche Wandel ab. Am Rande des gewohnten Rundfunkprogrammen wird auf die beiden TV-Sender, das Deutsche und Österreichische Fernsehen hingewiesen, die jeweils vom späten Nachmittag bis in die Abendstunden zu empfangen sind.
So spiegelt sind gerade in Weihnachten immer wieder die jeweilige Zeit mit ihren ganz speziellen Umständen wider. Es kann viel und lange darüber gegrübelt werden, ob die Menschen in den kargen Nachkriegsjahren den wahren Sinn des Festes intensiver erlebt haben als im heutigen High-Tech- Zeitalter. Letzten Endes wird aber jeder Einzelne nur so weit vom Mysterium der Heiligen Nacht beeinflusst wie er das Ereignis von Bethlehem an sich heranlässt.